Heute Morgen ruft mich meine Tochter aus Paris an und sagt: "Papa, vor einer
halben Stunde war ich zusammen mit deinem deutschen Sohn am
Nowodewitschi-Friedhof, und da hat uns ein Penner angemacht. Dein Söhnchen
ist ausgesprochen kultiviert – er wollte mir seine Russisch-Kenntnisse
vorweisen und wandte sich an diesen Penner mit dem wunderschönen Spruch
"Verzeihen Sie, Sir". Das hat mich fast vor Lachen weinen lassen - so was
einem verdreckten russischen Obdachlosen zu sagen, könnte nur eine reinste
europäische Intelligenzbestie".
Es war klar, dass meiner Tochter etwas passiert war – was könnte das für
eine Supertechnologie sein, die es innerhalb einer halben Stunde schafft,
Menschen von den Ufern des Flusses Moskwa an die Ufer der Seine zu
teleportieren?
Nun, dachte ich, ich soll meine Tochter in Paris besuchen, sie wohnt ja
nicht weit weg - im fünften Stock im Hause gegenüber. Ich zog mich an und
ging nach draußen.
Die Situation auf der Straße verhieß nichts Gutes. Über dem
Sewastopol-Boulevard, in einer extrem geringen Höhe, patrouillierte ein
archaisches japanisches Jagdflugzeug Mitsubishi A6M2 Rei-sen, unter Piloten
als "Zero" bekannt. Das Fenster im Cockpit der Maschine stand weit offen,
eine riesengroße und hässliche Fresse ragte heraus, die herzzerreißend
"Tora-Tora-Tora!" schrie. Ich zeigte dem Japaner meine Faust, er grinste,
knallte das Fenster zu und flog in Richtung Rue Reamur davon.
Ich blieb auf dem Bürgersteig kurz stehen und überlegte: Soll ich rübergehen
oder soll ich nicht? Ein japanisches Jagdflugzeug, das um 8 Uhr morgens über
den Pariser Sewastopol-Boulevard fliegt, galt schon immer als schlechtes
Omen, da es sich zu diesem Zeitpunkt an einem ganz anderen Ort hätte
befinden sollen, nämlich im Anflug auf den amerikanischen
Luftwaffenstützpunkt Hickam auf der Hawaiianischen Insel Oahu. Also, Pearl
Harbour, lapidar ausgedrückt. Es ist auch bekannt, dass dem Mann, der dem
"Zero-Japsen" mit der Faust droht, etwas außergewöhnlich Schlimmes passieren
muss, und zwar umgehend.
Okay, dachte ich, ich gehe rüber, komme was wolle. Meine Tochter ist ja
wichtiger. Was soll's, es wird nichts passieren.
Aber es ist passiert.
Als ich das Haus betrat, in dem meine Tochter wohnt, wurde mir sofort klar,
dass sich das Omen bewahrheitet hatte. Sie waren zu dritt, sie standen
schweigend direkt vor der Fahrstuhltür und sahen mich erwartungsvoll an. In
meiner Jackentasche drückte meine rechte Hand instinktiv eine kalte, an eine
1,5 Meter lange Kette gebundene, 500 Gramm schwere Birne aus Blei – und ließ
sie sofort los. Ein probates sowjetisches Mittel, - dachte ich, - aber
leider momentan nicht nutzbringender als nasses Klopapier. Sie werden mich
ja der "Verunstaltung" von Personen beschuldigen, die sich im Berufsdienst
befinden. Kacke. In Paris werden solche Dinge nicht geduldet, besonders
heute, wo dieses Paris an der proletarischen Revolution erstickt. Sie werden
dich fesseln, und noch am selben Tag mit dem ersten Flugzeug in deine Heimat
– also, in meinem Fall, nach Marokko - abliefern. Kacke noch mal.
Mein gerade auf "Autopilot" umschaltendes Gehirn signalisierte: "Vergiss
nicht den wichtigsten Grundsatz: Wenn du drinnen bist, dann gibt es keinen
Ausweg; wenn du aber noch nicht eingetreten bist, dann "Genossen,
verschwindet wie der Furz im Winde". Ich bin noch nicht drin, also gibt es
noch kein Problem. Meine Absicht ist jedoch absolut klar: Ich gehe zum
Aufzug, und deshalb bin ich im Begriff, damit zu fahren. Diesem Einwand
begegnet mein Verstand mit einem kurzen Befehl: "Wechsle zum
Schnürsenkel-System!"
Ich wechsle. Ich mache einen Schritt auf den Fahrstuhl zu, während sich mein
rechter Fuß, noch in der Luft, in einem Winkel von 30 Grad zum Boden dreht.
Die Metallspitze des Schnürsenkels an diesem Schuh, die sich nun auf die
polierte Bodenplatte gerutscht ist, gibt ein charakteristisches
Klickgeräusch von sich. Dieses Geräusch ist leise, und das Trio, das am
Aufzug steht, kann es nicht hören. Ich warte auf dieses Geräusch, und
deshalb klingt es für mich wie ein Schuss. Im nächsten Moment landet der
Absatz meines linken Schuhs auf der Spitze des am Boden liegenden
Schnürsenkels und drückt diese fest auf die Bodenplatte. Dabei macht der
rechte Fuß nach der jahrelang eintrainierten und exakt 250 Millisekunden
dauernden Verzögerung bereits einen neuen Schritt. Der Schnürsenkel wird
gelöst.
Oje! - rufe ich, von schmerzhafter schauspielerischer Enttäuschung gepackt,
und bücke mich, um den Schnürsenkel zu binden. Jetzt kommt es auf das
richtige Timing und die Stimmung der Drei an den Fahrstuhltüren an. Als ich
mich über meinen rechten Stiefel beuge, höre ich, wie sich die Fahrstuhltür
öffnet. Pause. Werden sie den Aufzug betreten oder nicht?
Ach, ein Detail muss ich noch erwähnen. Das "Schnürsenkel-System" sieht als
eine seiner wichtigsten Komponenten eine gewisse Schnürsenkellänge vor –
statt der für einen Standard-Herrenstiefel benötigten 76 Zentimeter sind es
satte 200 Zentimeter, die für einen recht langen Bindevorgang sorgen. Aber
die Drei am Aufzug benehmen sich professionell – statt anfangen, wie
geistige Tiefflieger, die Schmierereien an den Wänden in einer Art
wissenschaftlichen Begeisterung zu begucken, betreten sie den Fahrstuhl. Die
Aufzugstür schließt sich jedoch nicht. Ich schaue auf - sie stehen im
Fahrstuhl und sehen mich an. "Möchten Sie nicht mitfahren?" - stellen sie
mir plötzlich eine Frage in einem harmonischen Chor. "Nein, fahrt schon, ich
habe es nicht eilig, muss nur meine Schnürsenkel binden, ich habe immer
Probleme damit".
Die Fahrstuhltür schließt sich. Profis, - denke ich, - Nerven wie Seile...
Ihr Aufzug hat nicht einmal Zeit, sich zu bewegen, und ich stehe bereits an
der Tür des zweiten Aufzugs und drücke den Knopf. Zum Glück geht die Tür
sofort auf. Aus Gewohnheit drücke ich nicht die "5"-Taste, sondern die
"7"-Taste. Wenn das Treffen bei meinem Abstieg vom siebten in den fünften
Stock stattfindet, gilt wieder der oben genannte Grundsatz – "Wenn du
"außerhalb" bist, dann "verschwindet wie der Furz im Winde"".
Im dritten Stock hält der Aufzug plötzlich an. Diese Drei kommen grinsend
herein. Sie stellen sich, die Tür blockierend, in einer Reihe, mir
gegenüber. Sie drücken keine Knöpfe, sie warten nur darauf, dass sich die
Tür schließt. Es ist klar, ihr Schweine. Ihr musst nirgendwo hin, ihr jagt
mich bloß. Und, wie es scheint, jagt ihr erfolgreich, wenn man dem gleichen
Grundsatz folgt - "Wenn du drinnen bist, gibt es keinen Ausweg." Oder
vielleicht gibt es einen Ausweg, - denke ich, - immerhin, bis die Tür
geschlossen ist, kannst du dieses Trio beiseite schubsen und ausbrechen.
Aber Weglaufen ist eine Schande, und ich bleibe im Fahrstuhl.
Endlich schließt sich die Tür und die Drei stecken fast synchron die rechte
Hand in die Hosentasche. In der nächsten Sekunde bin ich in der Ecke des
Fahrstuhls eingeklemmt, so eingeklemmt, dass meine Füße nicht einmal den
Boden berühren. Als ich nach unten schaue, sehe ich drei Plastikkarten in
Höhe meines Halses. Jede Karte hat ein kleines Foto.
Bastarde, - quetsche ich durch die Zähne, - Ihr hättet eure beschissenen
Bilder gegen neuere austauschen sollen. Auf allen drei Fotos sehen diese
Typen wie Alain Delon in seinen besten Jahren aus, im wirklichen Leben - wie
unrasierte und hässliche Penner.
Aber sie lassen mich nicht ausreden – plötzlich ist die Aufzugskabine vom
ohrenbetäubenden Dröhnen dreier Stimmen erfüllt:
"Zeigen Sie bitte Ihren Fahrausweis!!!!!!!!!!!"
Einmal, vor sehr langer Zeit, wahrscheinlich in meiner Kindheit, stieß ich
in einem Buch auf einen solchen Ausdruck: "Das Heulen, ein wütendes,
leidendes und wildes Heulen einer durchschossenen Wölfin". Das ist wohl ein
sehr abgenutzter Stempel - trotzdem verwende ich diesen Ausdruck, weil er
trotz aller Banalität am besten wiedergibt, was dann geschah.
Ich heulte. Mein Heulen, ein langes und wildes Heulen einer wütenden,
unglücklichen, durchschossenen Wölfin, brach durch das Dach der
Aufzugskabine und hallte, als es in den Fahrstuhlschacht entkam, durch das
ganze Haus wider.
Das Heulen dauerte nicht lange, weil ich davon aufgewacht war. Ich lag im
Dunkeln und dachte: Was war das? In jedem Traum, wie meine Großmutter zu
sagen pflegte, gibt es immer eine Bedeutung, aber welche Bedeutung hat das,
was ich gerade geträumt habe? Es gab auch reale Objekte in meinem Traum:
meine in Paris lebende Tochter, meinen in Deutschland lebenden Sohn und
Pearl Harbor – der letztere war, Gott sei Dank, indirekt anwesend. Aber das
Highlight des diesmaligen Amüsements – Fahrscheinkontrolle im Aufzug – woher
kommt dieser Stuss? Meine Angst vor Fahrkartenkontrolle bahnt sich ihren Weg
aus dem Unterbewusstsein, oder was? Aber warum sollte ich diese Angst haben
- ich fahre doch nirgendwo ohne Fahrkarte hin!
Und dann – langsam - dämmerte es mir: Dieser Traum ist eine verschlüsselte
Botschaft. Und ich bin ein Medium, also ein Vermittler, dessen Aufgabe es
ist, diese Botschaft zu entschlüsseln und dem Adressaten in einer für ihn
verständlichen Form zu übermitteln. Ich glaube, Sie werden zustimmen, dass
diese Aufgabe viel einfacher ist, als das, was ich oben beschrieben habe, zu
erleben.
Der Adressat der Nachricht ist sehr einfach zu ermitteln: Es handelt sich um
eine Person, die erstmals aus dem ehemaligen so genannten "Ostblock" nach
Westeuropa reist.
Die Nachricht selbst sollte - nach sorgfältiger Entfernung von "Spreu"
(japanischen Kamikaze und Taschengewichten an 1,5 Meter langen Ketten) - so
aussehen:
"Sehr geehrte herzensgütigste und auch geistig minderbemittelte Genossen am
Ort ihres natürlichen Vorkommens, die gerade die Regionen des rudimentären
Kapitalismus verlassen wollen und sich zum ersten Mal in Regionen mit
traditionell verfaultem Kapitalismus begeben! Seid wachsam! Wehrt euch!
Unmittelbar nach dem Überqueren der Grenze zwischen Abflug- und
Ankunftsregion wird Ihnen das Geld aus den Händen gerissen!
Einmal hörte ich zufällig einen solchen Scherz: "Derjenige kritischer
Kommentar ist hochwertig, deren Empfänger seinen Sinn nicht sofort, sondern
zehn Jahre später, kapiert und damit – zur Freude sehr ungeduldig und lange
wartenden schadenfreudigen Beobachter - einen verblüffenden Schlag ins
Gesicht bekommt". Ich werde jedoch nicht zwei Fünfjahresperioden warten, um
eine Bestätigung meiner Richtigkeit zu erhalten. Vielleicht braucht jemand
nicht 10 Jahre, sondern nur 5 Minuten.
Dann wäre mein Traum nicht umsonst gewesen.
Zu diesem Schluss gekommen, wachte ich wieder auf, diesmal wirklich. |